Meingast kann wieder einmal sein Temperament nicht beherrschen und fühlt sich durch die Tageszeitung für den „klugen Kopf“ angeregt, sich kritisch über einen bestimmten deutschen Denkhabitus - wenn‘s um die Dinge im Nahen Osten geht - zu äußern. Hier zur Übung ein ‚Leserbrief in Flaschenpost‘:
„Ein Historiker kommt zur Sache“ - Judaismus-Forscher Karl E. Grözinger. (FAZ 4. Juli 2020, 11)
Die Sache à la Grözinger ist: Er entdeckt, dass die Weltöffentlickeit ein neues Thema habe, den Kolonialismus. Wieso jetzt? Historiker wissen doch, dass spätestens mit der Eröffnung des Suez-Kanals kapitalistische Entwicklung und kolonialistische Regime auf das engste miteinander verknüpft waren. Monokulturelle Plantagensysteme, Sklavenhandel einerseits, Weltöffnung durch Kanalbauten, Häfen, Eisenbahnen andererseits. Man mag das „Modernisierung“ nennen, aber darum geht es doch in den heutigen Debatten nicht. Es geht um Selbstbestimmung und Anerkennung der Authentizität des Eingenanteils der betroffenen Bevölkerungen. Israel wurde 1948 als säkularer demokratischer Staat gegründet. Trotz der vielen, oft von Gewaltakten begleiteten Formen der Landnahme und Vertreibung – noch heute mit dem Mythos des fehlenden Begriffs von Eigentum an Grund und Boden unter Fellachen und Beduinen begründet – gewährte der israelische Staat den verbliebenen arabischen Bauern, Viehhaltern und Grundbesitzern bürgerliche Rechte, auf eine Weise, wie sie noch heute in benachbarten arabischen Staaten schwer zu finden ist. Das ging nicht ohne Scherereien, aber es gab Pässe und Rechte. Nach 1967, 1973 und 1978/9 wurden mit zunehmender Religösierung des Zionismus die Probleme des Zusammenlebens schwieriger (Gaza, Libanonkrieg, Islamismismus). Auch im internationalen Diskurs stehen seitdem kulturelle Emanzipation und soziale Anerkennung im Zentrum der Politik. Folge ist auch in Israel eine allgemeine Schwächung des Sozialdemokratismus. Seit der Islamischen Revolution im Iran breitete sich die postkoloniale Anerkennungskultur aus, auch in Israel. Dort geht es seit dem Libanonkrieg von 1982 vor allem darum, ob der Zionismus als idealistische, moralisch ethische Größe des israelischen Staatsgebildes in begrenzetem Rahmen des Rechtsstaats weiterhin Kultur-prägend bleiben soll, oder ob ihm über neue politico-ideologische Margen grundlegend neue religiös-ethnische gouvernmentale, wenn nicht gar totalitäre Eingriffsmüglichkeiten eröffnet werden sollen. Herr Professor Grözinger geht auf diese Bedingungen des postkolonialen Umfelds, im Innern und im Äußeren, nicht ein. Wie schwer in Reaktion auf dieses Umfeld um diese Neuorientierungen des Zionismus gerungen wird, machen die letzten Wahlergebnisse in Israel und die seit langem verborgenen Umstände des Mordes an Ministerpräsident Rabin deutlich. Das innere Ringen über die Rolle des Zionismus im Zeitalter des Postkolonialismus ist noch lange nicht abgeschlossen. Vieles aber läuft allerdings darüber, wie die „Sachen“, die da angerichtet wurden und täglich lebensbestimmd angerichtet werden, aufgearbietet werden. Postkoloniale Kultur ist Gedächtniskultur, das wenigstens haben wir in Europa nach 1968 gelernt, das gilt bei aller Vorsicht auch für die Andern. Und natürlich ist - wie Grözinger zeigt – die Bearbeitung der Genealogie des inneren europäischen Antsemitismus und die Rettung der Opfer in Not, ein wichtiger Bestandteil dieser unserer Gedachtniskultur. Nur, wenn mit einseitiger Vertiefung der Anschein entsteht, dass hier wieder die Mantra gedreht werden könnte, mit der über alles aktuelle praktische Handeln, Geschehen und die Reflektionen darüber hinwegzusehen wäre, dann wird das Gegenteil von Aufarbeitung bewirkt. So zu tun, als habe es nie eine Groß-Zionistische Politik im Nahen Osten gegeben, ist fatal. Die Zeichen von neuer „Landnahme“ – innerer wie äußerer - sind zu deutlich. Es kann aber keine messianisch begründeten Sonderrechte geben im universellen Recht (Hierzu und zur ‚Sache‘ wirklich: „Der Glaube an das Recht“ Besprechung von zwei Büchern zu Leben und Werk von Benjamin Frencz, FAZ, 3. Juli 2020, Seite 10). Der emeritierte Professor für Jüdische Studien an der Universität Potsdam aber geht an der „Welt der Sachen“ vorbei, wie Vieles, was in habituellem Gleichklang, über Israel und den Nahen Osten auch sonst hier geschrieben wird. Wie offen solche Fragen noch in der englisch-sprachigen Literatur und israelischen Zeitungen dikutiert werden, will man deutschen Lesern nicht gerne zumuten. Doch hier empfehle ich zwei interessante Texte:
Zur Aufmunterung:
ISRAEL AND THE CLASH OF CIVILISATIONS. Iraq, Iran and the Plan to Remake the Middle East. JONATHAN COOK. Pluto Press 2008
ZIONISM AND MELANCHOLY. The Short Life of Israel Zarchi. NITZAN LEBOVIC. Bloomington, Indiana University Press 2019.
Und gelegentlich: The Times of Israel. Jerusalem