Hildegard Feick in Darmstadt und der verdrängte Heidegger (30. Juni, 2020)
Meingast erinnert das Bild einer Frau, durch die er als junger Mann Heidegger vorgestellt wurde. Er war sich seines Stolzes nicht bewußt, merkte aber über die Jahre, dass das Ereignis innere Eigenwirkungen erzeugt hatte und später gar die rationalen Blockierungen löste, mit denen er Heidegger aus seiner Vorstellungswellt verdrängt hatte. Jetzt meinte er gar, ihn habe eine eigenartige, phantasmagorische Energie getroffen:
Das "schwarze" Buch, das über Sprache handelt, fiel mir ab und an in die Hände. Diesmal suchte ich es wegen des darin enthaltenen "Gesprächs von der Sprache zwischen einem Japaner und einem Fragenden". Ich hoffte, dass es zu einem Thema passt, das mich gerade interssiert: Sufismus und Mystizismus im meta-regionalen Austausch. Als ich das Buch wieder gefunden hatte, kam es aber völlig anders. Ich erinnerte mich plötzlich an Frau Dr. Hildegard Feick in Darmstadt. Ihr Name ist nicht unbekannt, er prangt auf den Deckseiten späterer Ausgaben von „Sein und Zeit“. Jetzt holte ich auch diese Ausgabe ausdem Regal. Da stand sie mit ihrem Namen als Herausgeberin des separat gedruckten Indexes. Doch Jahre lang maß ich dem keine Beachtung bei. Jetzt aber war mir, als käme sie aus einer anderen Welt. Das war nicht die Welt, in der ich sie in Erinnerung hatte. Mit dem Namen im Buch, gewann sie eine andere Bedeutung und war gewissermaßen selbst zu einer Autorin geworden. Damals, als lebendige Frau, war sie für mich die Frau des Darmstädter Stadtkämmerers Feick und Lehrerin in einem Darmstädter VHS-Kurs. Dass sie selbt aber eine Rolle in Leben und Werk des späten Heidegger spielen könnte, blieb mir, dem zugegebenermaßen Nicht-Heideggerianer bis heute ein Rätsel.
Meine eigenartigen Erfahrungen mit dieser Frau – so kurz und gering sie waren - sind vielleicht doch der Beachtung Wert, wenn sie auch nur als kleine Momente in meiner eigenen bescheidenen Lebensgeschichte figurieren. Es ist schon hier zu sagen, die Begegnung war kurz und trotz einer gewissen Intensität marginal. War mir doch Heidegger selbst in Leben und Werk fern geblieben.
Es war wohl im Frühjar 1959 – wie sich später heraus stellen sollte, das 70. Lebensjahr dieses Philosophen –, als der strebsame, sonst so trockene und stille Primus unserer gymnasialen Klasse mich einlud, mit ihm an einem Einführungs-Kurs zu Heideggers „Sein und Zeit“ in der Darmstädter Volkshochschule teilzunehmen. Es ist noch anzumerken, dass in selbigem Jahr ein älterer Neuling, mein ewig verehrter Petthal, hinzukam , der mich, den Bedürftigen in Dingen der Literatur und Philosophie, kräftig beeinflusste und es jetzt gar nicht gut fand, als ich mich ausgerechnet mit dem Primus für einen VHS-Heidegger-Kurs anmeldete.
Da saßen wir dann, zwei 17jährige Gymnasiasten, der stille Primus und ich, unter etwa 10 Erwachsenen wöchentlich zwei Stunden hinter unbequemen Bänken in der Volkshochschule und hörten Frau Dr. Hildegard Feick zu, wie sie aus „Sein und Zeit“ vorlaß. Nach eins, zwei Sätzen oder einem kleinen Paragraphen stoppte sie, zündte sich eine Zigarette an, las weiter, hörte wieder auf, erhob sich vom Tisch und ging dann vor der Tafel leichten aber langsamen Schrits hin und her. In klaren kurzen Sätzen vermittelte sie uns den Sinn eines Satzstückes oder Paragraphen. Rhetorisch blieb Frau Feick dabei generell in der eigentümlichen Sprache Heideggers selbst – und wie gesagt später, erst viel später sah ich wie bedeutsam sie für Heidegger war: der ewige Index zu ‚Sein und Zeit‘ ist von ihr und reicht über Darmstadt weit hinaus. Und nicht zu vergessen – obwohl ich erst jetzt davon weiß, es war Heidegger, der ihren Beitrag bei der Herausgabe seiner Bücher mit einer kleinen Schrift würdigte. Ihr mittelblondes Haar fiel ihr auf die Schultern und umrahmte ein klares rundes Gesicht mit bestimmeden, aber freundlichen Zügen. Ein bleibender Gesichtsausdruck. Nie entfernte sie sich vom Text, suchte, so schien es, immer wieder – meist zwischen zwei Zigareettenzügen - neue Heidegger-Worte für die Worte Heideggers, die ja schon im Text standen. Für uns gab es keine Heidegger-Sakrilegien, und Petthal, der Neue in der Gymnasial-Klasse und mit allen Weihen des Älteren und Selbst-Studierten, war immer zu einem intelligenten Schnellschuß bereit. Er machte sich über uns als die großen Heidegger-Adepten lustig. Er sagte einmal, als ich ihm von Frau Feicks VHK-Kurs erzählte, „ja, sicherlich, ja, die selbst ‚west‘ ja in Heideggers Texten fort!“ Der Unterschied von „Wesen“ und „Dasein“ war nun wirklich auch der Gegenstand von vielen Erläuterungen Frau Feicks, die mir unverstanden blieben. Nein, nein, da waren keine Sakrilegien, Frau Feick, die Heidegger-Schülerin von Darmstadt, kannte das nicht, dass man Zweifel auch als Sakrileg behandeln könnte. Nie be-antwortete sie Fragen vom „hohen Ross“ herunter. Ruhig und eindringlich sprach sie zu jedem von uns. Da gab es einen jungen Mann, ein Fabrikarbeiter, wie wir erfahren hatten, der mit seinem Fahrrad zum Kurs kam, und der viel fragte und redete. Immer bekam er eine ruhige Antwort. Da gab es zwei seher viel ältere Frauen, älter als wir alle, die bei bestimmten Fragen selbst lieber von Sakrilegien gesprochen hätten. Frau Feick blieb, wie mir schien, immer bei der Banaltät des Textes, als buchstabierte sie die Dinge, wie sie sind. Bescheiden war sie, wie in ihrem Auftritt in festen absatzlosen Lederschuhen und ihrem einfachen, grauen oder graubraunen Kostüm mit einem Glocken-Rock, dessen Falten schnurstracks in gerader Linie an ihr herunterfielen. Sie rauchte viel, aber das half ihr, bei der Sache zu bleiben – wenn es damals auch nur eine außergewöhnliche Attitüde der philosophischen Frau sein mochte, oder gar von Philosophem überhaupt. Frau Feick aber war, wie sie war, sie rauchte, aber spielte nicht. Sie war von der Bedeutung Heideggers überzeugt, das zeigte sie, und sprach ohne jene aufgeregte Haltung, die wir damals Pauker-Attitüten nannten. Und Petthal wirklich, auf den ich immer mehr zu hören begann, war einer der größten Feinde von Paukern. Aber er lag mit Frau Feick völlig daneben, Für ihn gehörte sie einfach nicht der Zukunft der Intelligenz an; und in dieser Zukunft sah Petthal weder Heidegger noch den Klassenprimus auf einem Platz. Nun, das wusste ich lange Zeit nicht: Was Heidegger anlangt, so lag nicht nur Petthal, sondern auch Adorno, auf den Petthal mich unbedingt ansetzen wollte, daneben. Es brauchte fast drei Jahrzehnte und eine Reflektionszeit in Australien, bis mir das klar werden konnte, und ich zunehmend merkte, dass die wenigen Dinge, die ich damals von Frau Feick lernte, zu zwei Begriffsakklomeraten zusammenzusetzten wären, die uns heute noch immer, und immer mehr beschäftigen: a) die Geworfenheit des Menschen – d.h. wir kommen in diese Welt hinein ohne unser Zutun, und wir kommen in der Regel auch wieder so aus ihr heraus, wie wir hineingekommen sind, jenseits unseres Wollens -, und b) die Geschichtlichkeit, all unsere Erkenntnis hat einen historischen Kern – d.h. was war, bestimmt auch über unser Tun.
(Das ist natürlich sehr einfach und ganz und gar nicht heideggerianisch gesagt. Dass es Heidegger mit „Sein und Zeit“ um „die Erschließung der ‚Sachen selbst‘“ geht, das blieb uns unerschlossen, obwohl Frau Feick immer auf die Sachen, so großen Wert legte. All dies bedürfte der Erläuterung, nur hier und jetzt geht es nicht; also später einmal, vielleicht!).
Frau Feick hatte ein recht passables Holzhaus im Schwedenstil in der Grünzone an der Ausfallstraße nach Dieburg hinter der Tanzschule Bäulke, soweit kann ich mich erinnern. Ich war schon nicht mehr einer der eifrigen Kursteinehmer, als ich eines Tages eine bemerkenswerte Postkarte von ihr in unserem Briefkasten am Haus in Roßdorf fand. Es war die erste persönliche Postkarte, die ich je erhalten hatte). Vorne eine eindrucksvoll farbige Seite, ein Gemälde von Cezanne (war mir bis dahin unbekannt, die Karte umso beeindruckender, und brachte mich dazu, eine zeitlang Postkarten von Cezanne und Renan zu sammeln und zu verschicken). Die eng beschriebene Schriftseite enthielt eine persönliche Einladung zur Geburtstagsfeier und Einführung zum gerade neu erschienenen Buch von Heidegger. „Unterwegs zur Sprache“. Es war ein Sonntagnachmittag mit Kuchen, Torte und Filterkaffee, das Wohnzimmer war groß und fasste gerade so die ca. 30 Gäste. Es war reichlich mit schwedischen Rundholzmöbeln ausgestattet. Kaffee und Kuchen wurden einzeln von Familienmitgliedern gereicht. Heidegger saß in der Mitte des Raums im Ohrensessel neben einem kleinen Tisch mit einem Stapel von ganz in Schwarz eingebundenen Büchern. Ich kann mich an den Rückendeckel erinnern: Heidegger Sprache, in Gold. Man musste bei der Verteilung nicht anstehen, wurde hin geleitet, und Heidegger zeichnete auf der Rückseite einer Karte mit seinem Bild wie gestochen ein freundliches Gruß- und Dankeswort, steckte die Karte in das Buch und händigte auch mir ein Exemplar aus. (Ich hatte damals auch garnicht das Geld, mir ein solches Buch zu kaufen.)
Beim nächsten Treffen mit Petthal wollte der natürlich Alles wissen, das Buch und die Karte betrachten. Obwohl er Stifter schätzte, machte er jetzt eine abfällige Bemerkung über Heideggers Bild, als wäre es das von einem Alpendichter, und fand die Gedicht-Besprechungen, Trakl und George betreffend, als verhunztes Zeug. Kurz das Thema ‚Heidegger‘ war mit Petthal nicht mehr anspechbar. Das Buch aber hielt ich in Ehren und blätterte oft darin, wenn ich es zu einem längeren Auslandsaufenthalt wieder einmal einpacken musste. Das quasi sufistische Gespräch mit einem japanischen Philosophen, das hier Aufnahme fand, ist mir noch heute eine Quelle von vielen Anregungen zur Frage des Denkens zwischen Ost-West. (Vielleicht auch dazu einmal mehr an dieser Stelle).
Schließlich kann ich den traurigen Aspekt der Geschichte meiner Heidegger-Begegnung vermittelt durch Dr. Hildegard Feick nicht unterdrücken. Es ist nur meine Geschichte eigenen dummen Umgangs mit dem Ereignis, das ich garnicht sehen konnte, aber doch erlebte. Vielleicht, war ich einfach zu jung damals für „Sein und Zeit“ (immer wie ein entfliehender Luftballon davon, davon), und wie banal, dass ich ausgerechnet in Australien Heidegger-Verehrer und -Kenner fand, denen ich unbedingt das schwarze Buch mit der goldnen Titelschrift auf dem Rückdeckel vorzeigen musste. Ich sah in ihren Augen einen so natürlich aufbrodelnden Neid, den das vor Jahren von Heidegger mit eigner Hand übergebene Buch und die Karte mit Heideggers Bild und eigner Handschrift verursachten. Eigentlich waren sie gar nicht so neidisch, sondern davon nur ergriffen. Petthal – der große Geheimrat in Literatur und Philosophie - sei bedangt, hat er mich doch vor einem schweren Weg nach Freiburg gewarnt, wenn auch Frankfurt nicht der leichtere Weg war, und die Sprache dort mir nicht weniger „schwer“ erschien.