Massignon

Debris of Ideas

MASSIGNON: INDIVIDUALISMUS UND ISLAM (ein Beispiel
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Die Zeit des emotionalen Umbruchs, in der sich der moderne Individualismus in die Politik des „nackten Lebens“ verbindet, setzt dem Selbst eine neue Perspektive. Es kann sich nicht mehr in den alten Widerspruch zwischen Selbsterfahrung und sozialer Pflicht binden lassen. Längst ist alles, was Pflicht und soziale Institution erforderten, inkorporiert.
Religion, die hierfür eine so große Mittlerrolle gespielt hat, sollte nun unter dem Gesichtspunkt der Selbstfindung ganz aus der Welt des wirklichen herausfallen, und doch bleibt der Teil einer neuen Vision Welt, einer fantastischen Spielwelt, in der Erzählungen, Mythen, Illusionen und Bilder geschaffen werden, die nur den Zwecke des abschließenden Herauslebens des Menschen aus der konkreten Natur dienen. Was von dieser an seinem Körper bleibt, die nackte Kreatürlichkeit, wird zum neuen Terrain von Selbst-Sein und Sozialität. Allein die einzig übrig gebliebene körperliche Entäußerung des Selbst bestimmt nun alle „wirklichen“ Beziehungen. So stellen die Visionären und lässig illusionären Beziehungen der Herauslösung des nackten Körpers aus der Natur „Religion“ neu in den Vordergrund der eigentlich sozialen Beziehungen am Ende des 20. Jahrhunderts (hier setzte Agambens „Heiliger“ ja an.)
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Man könnte auf einfache Weise sagen, dass der Zusammenhang von Religion und Individualismus dann doch nicht nur eine Frage der Entwicklung des Monotheismus ist. Die „Heiligen“ waren ja schon davor da. Und doch waren sie immer auch schon im katholischen Christentum und im Islam mit dieser Entwicklung des Monotheismus verbunden. Am intensivsten hat dies das Lebenswerk des französischen Orientalisten Louis Massignon demonstriert. Massignon verkörpert in gewisser Weise eine sehr intrinsische Verbindung von christlichem Verständnis des Individualismus mit einem großen islamischen Mystiker und Märtyrer der Frühzeit: al-Halladj. Massing war unternimmt den Versuch, al-Halladj in der Ganzheit des sozialen Lebens im mittelalterlichen Persien und Irak darzustellen und in einer „subjektiven Perspektive“ alle institutionellen und sozialen Beziehungen im Zeichen der „Sorge“ um das Leben des „Einzelmenschen“ zu betrachten.
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Es geht dabei nicht primär um Fragen des Islams und der islamischen Mystik in ihrem Verhältnis zu Institutionen. Es geht um den Einzelmenschen, der durch seinen Lebenskampf, durch seinen tiefen Spiritualismus, soziales Leben prägt. Halladj wurde zum Opfer der Orthodoxie und ihrer Institutionen und war doch so, wie Massignon zeigt, eine Art „Christus“.
Massignons Bearbeitung des Christusthemas im Leben des islamischen Heiligen Halladj ist einzigartig. Wo sich die Ganzheit des Sozialen im Leben und im besonderen Tod dieses ausgestoßenen Einzelmenschen zeigt, ja, gewissermaßen verkörpert, da ist er sicher auch ein Symbol des mühsam unterdrückten Individualismus. Wie Massignon hinsieht, ist er vor allem auch ein Stück Theorie darüber, wie sich der moderne katholische Christ als ich Individuum versteht. Für Massgnon ist das Erlösungswort des Halladj ana al-haqq (Ich bin die – ewige – Wahrheit) – wie schon bei Christus - die einzige und absolute Wahrheit der Ich-Existenz: die „Wahrheit des Selbst“ - später von Foucault unter dem Begriff der Pharrhesia zu einem säkularen Modell moderner Individualität ausgearbeitet. Massignon zeigt wie die Orthodoxie und das orthodoxe Richtertum zum diesen Mystiker überführt, das „Geheimnis“ der Immanenz Gottes preisgegeben zu haben und dabei selbst „die innere Präsenz der heiligen Wahrheit“ (wa al-batin fi kullu shay ‘alim) – diese Koranische Maxime der sufitischen und shiitischen Welterkenntnis - zum Gegenstand der Sünde in seiner eigenen Hybris gemacht zu haben (Massignon 1980: 126ff.).
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Massingnons Lesart der islamischen Reaktion auf Halladj stellt die Tatsache der Außenseiterstellung dieses „Einzelgängers“ in den Vordergrund. Er sei verurteilt worden, weil er den Propheten selbst und die Gemeinde zurückgestellt, unterbewertet habe und in Bezug auf höchste islamische Werte des Gottes Wissens die Hybris seines eigenen, individuellen Zugangs zu Gott in der Liebesekstase (wadjd) reklamiert habe. Die Folge der Verurteilung des Halladj war, dass im Islam kaum noch Referenz auf Christus als dem singulären Wahrheitspropheten möglich war. Nach Halladj nahm der islamische Mystizismus einen anderen Weg, er folgte allen dogmatischen Anstrengungen, Behauptungen und Verabsolutierungen der individuellen Gotteserfahrung im wadjd zu unterdrücken. Alle methodischen Schulungen in den Sufi-Orden wurden von nun an entsprechend neu geformt. Ein Hauptvorwurf war, dass Halladjs individualistischer Absolutismus einer Zurücksetzung des Propheten gleichkomme, da er ja selbst durchaus existenziellen Zugang zu Gott – existenzielle Einheit in der Präsenz der Wahrheit – hatte, der dies aber selbst als ein Geheimnis behandelte. Die in die Schulen der Mystiker eine ziehende Orthodoxie zog hier Muhammad als einen Zeugen für die Überlegenheit des Schweigens in allen auf das „göttliche Wesen der menschlichen Existenz“ gegründeten Fragen heran (Ein Schweigen gegenüber der “Wahrheit“, den die unter dem Primat der Unantastbarkeit der Würde des Einzelmenschen stehende Moderne – darin Halladj gleich – sich nicht beugen kann).
Im Gegensatz also zur Orthodoxie, die den kollektiven Körper auf eine höhere Stufe der göttlichen Inkarnation stellt als den Einzelnen (Kollektivität als die „Heilige Kirche“ der Muslimen), sieht Massingnon  in Hallladj den substituierenden Heiligen (abdal) „as one of these given souls, substitutes for the Muslim community, or, put it more Biblically, for all men, among Believers in the God of Abraham’s sacrifice and among the expatriated pilgrims, the gèrim, who desire to find their way again upon dying back to the „bosom of Abraham“, where this God will bring about their immortal spiritual promotion” (Preface to 1962, Massignon 1988: LXV). Dagegen ist es nur damit, der für die Orthodoxie eine solche Position einnehmen kann.
Man mag heute in Massignons Werk den Versuch eines christlichen Missionars sehen, der zugleich einer tiefen christlichen Missionars sehen, der zugleich aus einer tiefen christlichen Version des frühen Sufismus arbeitet, wenn er die frühen „Heiligen“ als sozial engagierte Mystiker beschreibt, “aspiring the qibla of sacrifice“ – wie er sagt -  against an immense flow of mercenary prayers and perfidious works“ which „foamed forth against the pure prayer ofa few solitaries and against the spirit of poverty, fasting, and sacrifice“ (ibid.: LXIV). Er betrachtete den Sufismus als einen sozialen Aufschrei nach einer „Reform“ des Islams im Zeichen der (sozialen) Gerechtigkeit. Für unseren Kontext ist interessant, dass Massignon das Konzept des ikhlas, (die Reinheit der Absicht im Handeln und den Glauben zu Gott und die Reinheit der Einheit Gottes) als einen Begriff der „absolute transcendence of the humblest of heroic acts“ herausarbeitet und ihn gewissermaßen als die einzig mögliche Erlösung Haltung beschreibt: „The isolated heroic act, whose formal object is divine, as a pivotal value that is ‚transsocial‘ (ibid.: LXII). Mit dem Begriff des “transsozialen Aktes“ wird ein ins außengestellter homo sacer als Individuum sichtbar, dass über weltliche Notwendigkeiten hinweg handelt, ein Subjekt, whose acts are not only a solitary reaching beyond but a sumblimation not discontinuous with the masses.“ (ibid.: LXII).
Der Fall des Halladj und die Bekämpfung des Ich-Modells durch die Orthodoxie weist natürlich auf ein wichtiges Kapitel im kulturübergreifenden Dialog hin, dass im Zeichen der Universalisierung des Individualismus an Bedeutung gewinnt: denn die „Wahrheit des Selbst“ ist nun auch unter islamischen Vorstellungen präsent, wenn eben auch über andere von außen vordringende Kulturmechanismen „identifiziert“ und übertragen. Es ist in diesem Kontext heute nicht mehr möglich, sich einfach nur (wie noch Rodinson in seiner wichtigen Biographie von 1975) auf Muhammad als eine säkulare Figur mit äußerst charismatischen Charakterzügen zu beziehen. Das Martyrium des Halladj, in dem die theologischen Waffen für die Abwendung vom gerichtlichen Erlösungssubjekt geschmiedet wurden, schafft eine Säkularisierung des selbst ganz anderer Art: Selbst-Authentizität entwirft sich nicht (mehr) im Zeichen der persönlichen Eminenz der Wahrheit Gottes. Orthodoxe Methodisierungen und im kollektiven Recht gefundene Bestätigungen gelten und durchgängig auch im modernen Sufismus als Regeln für das selbst. Dies kommt einer Immunisierung gegen die heroische Aktualisierung der Wahrheit gleich, ja, einer Bestätigung des selbst gerade gegen das Ereignis des Realen und der tiefen Reflexion desselben.
Unter diesen Gesichtspunkten bedeutet „Halladj“ noch heute etwas sehr Reales, ein Moment in dem sich „Transsozialität“ als das durchsetzt, was man einen souveränen Akt des Ichs bezeichnen könnte, nämlich als ein Modell der Erklärung des permanenten Ausnahmezustands, in welchem die Ausgestoßenen und die modernen Ego-Players sich gleich kommen, wo die „Sorge für das Selbst“ in einen Akt der „Selbst-Politik“ umschlägt und zur Souveränität des Selbst beiträgt. Massingnons „Halladj“ liefert also bereits ein sehr heroisches Beispiel für die „politische Theologie“ des modernen Selbst.
(Aus „Herausforderung Ägypten“, Bielefeld 2010, pp. 212-215) 


MASSIGNON: INDIVIDUALISMUS UND ISLAM (for example:)
The period of emotional upheaval, in which modern individualism combines with the politics of "naked life", gives the self a new perspective. It can no longer be bound into the old contradiction between self-awareness and social duty. Everything that duty and social institution required has long since been incorporated.
Religion, which has played such a great mediating role in this, should now, from the point of view of self-discovery, be completely removed from the world of the real, and yet it remains part of a new vision world, a fantastic play world, in which stories, myths, illusions and images are created that only serve the purpose of the final living out of man from concrete nature. What remains of this on his body, the naked creatureliness. becomes a new terrain of itself and sociality. Only the only remaining physical expression of the self now determines all "real" relationships. Thus the visionary and casually illusionary relationships of the release of the naked body from nature put "religion" anew in the foreground of the actually social relationships at the end of the 20th century (this is where Agamben's "saint" came in).
One could say in a simple way that the connection between religion and individualism is then not only a question of the development of monotheism. The "saints" were already there before that. And yet they have always been connected with this development of monotheism in Catholic Christianity and in Islam. This was demonstrated most intensively by the life's work of the French Orientalist Louis Massignon. Massignon embodies in a certain way a very intrinsic connection of Christian understanding of individualism with a great Islamic mystic and martyr of the early period: al-Halladj. Massignon attempted to portray al-Halladj in the wholeness of social life in medieval Persia and Iraq, and to observe in a "subjective perspective" all institutional and social relations under the signum of "concern" for the life of the "individual man”. It is not primarily about questions of Islam and Islamic mysticism in their relationship to institutions. It is about the individual human being, who shapes social life through his life struggle, through his deep spiritualism. Halladj became a victim of Orthodoxy and its institutions and yet, as Massignon shows, he was a kind of "Christ".
Massignon's treatment of the theme of Christ in the life of the Islamic saint Halladj is unique. Where the wholeness of the social is manifested in the life and special death of this outcast individual, yes, embodied in a certain way, he is certainly also a symbol of the laboriously suppressed individualism. As Massignon looks at it, it is above all also a piece of theory about how the modern Catholic Christian sees himself as an individual. For Massgnon the word of redemption of Halladj ana al-haqq (I am the - eternal - truth) is - as already with Christ - the only and absolute truth of the I-existence: the "truth of the self" - later elaborated by Foucault under the term Pharrhesia to a secular model of modern individuality. Massignon shows how Orthodoxy and the Orthodox judiciary led to this mystic having revealed the "mystery" of God's immanence and thereby having made "the inner presence of the holy truth" (wa al-batin fi kullu shay 'alim) - this Koranic maxim of the Sufi and Shiite knowledge of the world - the object of sin in his own hubris (Massignon 1980: 126ff.).
Massingnon's reading of the Islamic reaction to Halladj emphasizes the fact that this "loner" is an outsider. He had been condemned because he had put the Prophet himself and the congregation back, undervalued them, and, with regard to the highest Islamic values of God's knowledge, claimed the hubris of his own individual access to God in the ecstasy of love (wadjd). The consequence of the Halladj's condemnation was that in Islam there was hardly any reference to Christ as the singular prophet of truth possible. After Halladj, Islamic mysticism took a different path; it followed all dogmatic efforts to suppress assertions and absolutizations of the individual experience of God in the wadjd. All methodical training in the Sufi orders was from now on reshaped accordingly. One of the main accusations was that Halladj's individualistic absolutism was tantamount to a rejection of the Prophet, since he himself had a thoroughly existential access to God - existential unity in the presence of truth - but who himself treated this as a secret. The Orthodoxy that moved into the schools of the mystics used Muhammad here as a witness for the superiority of silence in all questions based on the "divine nature of human existence" (a silence towards the "truth", which modernity, which is under the primacy of the inviolability of the dignity of the individual human being - in it Halladj equal - cannot bend).
In contrast to Orthodoxy, which puts the collective body on a higher level of divine incarnation than the individual (collectivity as the "Holy Church" of the Muslims), Massingnon sees in Hallladj the substituting saint (abdal) "as one of these given souls, substitutes for the Muslim community, or, put it more Biblically, for all men, among Believers in the God of Abraham's sacrifice and among the expatriated pilgrims, the gèrim, who desire to find their way again upon dying back to the "bosom of Abraham", where this God will bring about their immortal spiritual promotion" (Preface to 1962, Massignon 1988: LXV). On the other hand, it is only with this that one can take such a position for Orthodoxy.
Today one may see in Massignon's work the attempt of a Christian missionary who at the same time sees a deep Christian missionary who at the same time works from a deep Christian version of early Sufism, when he describes the early "saints" as socially engaged mystics, "aspiring the qibla of sacrifice" - as he says - "against an immense flow of mercenary prayers and perfidious works" which "foamed forth against the pure prayer ofa few solitaries and against the spirit of poverty, fasting, and sacrifice" (ibid. : LXIV). He regarded Sufism as a social outcry for a "reform" of Islam in the name of (social) justice. It is interesting for our context that Massignon elaborates the concept of ikhlas, (the purity of intention in action and faith in God and the purity of God's unity) as a concept of "absolute transcendence of the humblest of heroic acts" and describes it as the only possible attitude of salvation: "The isolated heroic act, whose formal object is divine, as a pivotal value that is 'transsocial'" (ibid. : LXII). With the concept of the "trans-social act" a homo sacer exposed to the outside world becomes visible as an individual who acts beyond worldly necessities, a subject whose acts are not only a solitary reaching beyond but a sumblimation not discontinuous with the masses. (ibid.: LXII).
The case of the Halladj and the fight against the ego-model by Orthodoxy naturally points to an important chapter in the cross-cultural dialogue that gains in importance in the sign of the universalization of individualism: for the "truth of the self" is now also present under Islamic conceptions, even if it is "identified" and transmitted by other cultural mechanisms penetrating from outside. In this context today it is no longer possible to simply refer (as Rodinson did in his important biography of 1975) to Muhammad as a secular figure with extremely charismatic character traits. The martyrdom of the Halladj, in which the theological weapons were forged for turning away from the judicial subject of salvation, creates a secularization of the very different kind: Self-authenticity does not (any longer) emerge under the sign of the personal eminence of God's truth. Orthodox methodologies and affirmations found in collective law are, and consistently are, considered rules of self in modern Sufism. This is tantamount to an immunization against the heroic actualization of truth, yes, a confirmation of the self precisely against the event of the real and the deep reflection of the same.
From this point of view, "Halladj" still means something very real today, a moment in which "trans-sociality" asserts itself as what one could call a sovereign act of the ego, namely as a model for the explanation of the permanent state of emergency in which the outcast and the modern ego-players are equal, where the "care for the self" turns into an act of "self-politics" and contributes to the sovereignty of the self. Massingnon's "Halladj" thus already provides a very heroic example of the "political theology" of the modern self.
(From "Herausforderung Ägypten” (Challenge Egypt), Bielefeld 2010, pp. 212-215) 

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