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Prüfe den Anti-Semitismus, genealogisch, diesmal im identitären Frankreich!

(Leggewie: FAZ 30.04.2020, SN 4)
Das Modell Frankreich im Zeichen von Anti-Semitismus, liberalistischer Anerkennunspolitik und ‚moderner‘ Identitätspolitik ist insofern ein spezifisches, als in keinem anderen europäischen Land der Versuch unternommen wurde, ein erobertes Kolonialgebiet dem Kern des Staatsgebiets einzuverleiben. Der Bezug zu den USA liegt nahe, denn dort hatte die Expansionspolitik im Westen einen französischen Philosophen Alexis de Toqueville als Unterstützer auf ihrer Seite, der aus dem Sturm der Französischen Revolution heraus die  Idee der Freiheit in das fremde Gebiet der „unwissenden Rassen“ hineingetragen sehen wollte, so auch die Kolonisierung Algeriens unterstützte. Die militärische Kolonisierung ging schließlich  Hand in Hand mit der Landnahme der neuen Siedler, der Anerkennung der algerischen Juden mit neuem Status als französische Staatsbürger, und einem ambivalenten Verhältnis der Administration gegenüber Sprache und Kultur der endogenen Bevölkerung, der Kabylen und Araber, die aber zugleich gegen die Besserstellung der Juden anti-semitische Ressentiments entwickelten. (Man erinnere sich, die Spitze der französischen Algerienpolitik mündete noch in den 1960er Jahren in der Aussiedlung resistenter Gebiete und Schaffung administrativ und militärisch geordneter, Stacheldrat bewehrter Auffang-Lager). 
Eine weitere Stufe ist in diesem Modell zu erkennen, sie ist verbunden mit dem Orient-Inspirierten, aber die Juden hassenden Henri de Saint-Simon, der Begründer einer über das ganze 19. Jahrhundert in der französischen Gesellschaft wirksamen, Orientmythen freundlichen aber Wissenschafts- und Technik-besessenen libertairen Bewegung. Sie war getragen von arabophilen frz. Intellektuellen und Ingeneuren. Auch hier gibt es einen kolonialistischen Hintergrund, die Eroberung Ägyptens durch Napoelen 1798-1805. Allerdings darf man das Ende der politischen Bedeutung der Gruppe in Frankreich mit der Niederlage der Juli-Revolution 1830 als abgeschlossen bezeichnen. Übersehen wird gemeinhin der große Effekt einer von mythischer Inspiration geleiteten Ägyptenexpedition – 1833, sicher sich auf Napoleon und dessen „Dèscription d’Ègypte‘ beziehend – auf die innere zivile Modernisierung Ägyptens: Kanäle, Staudämme, Polytechnische Bildungseinrichtungen, „Französisierung“ der Oberschicht, metropolitane Zwei- und Mehrsprachichkeit. Im Endeffekt waren sie es, die den Suezkanal planten und seinen Bau mit Landvermessungen vorbereiteten. Sie waren allerdings besessen von einer sozial-technischen Utopie: Weltverbesserung durch Verdichtung der Verkehrswege und intensivierter Kultur der Ost-Westkommunikation. Es mag sein, dass die beiden herausragenden Persönlichkeiten Père Enfentin und Ishma’il Urbain keine Judenfreunde waren, für die ägyptische Seite hatte das keine besonderen politisch-religiösen Auswirkungen. Dass sie in Frankreich, als eigene Kraft den Anti-Semitismus gepflegt hätten, (verantwortlich für die Dreyfus-Affaire und das Ende der bürgerlichen Gleichstellung der Juden), scheint mir eine schlecht belegte, phantasie-beladene Idee zu sein, um die politischen Protagonisten von Libertinität, Liberalisierung und Multikultur als Wegbereiter des gegenwärtigen Anti-Semitismus zu verunglimpfen. Die These, Arabophilsein ist gleich Anti-Semitischsein, scheint mir eher einer bloßen genealogische Rückprojektion der politischen Ambivalenzen hinauszulaufen, die sich erst mit dem Israel-Projekt ergeben haben und heute mit der Intention, jede Form der Zweistaatlichkeit torpedieren zu wollen, zusammenhängt.  
Was aber sollen solche Aktualisierungen der Geschichte anderes, als Verantwortung gegenüber aktuellen berechtigten Kritiken der herrschenden nationalen Territorialpolitik, auf den Stand religiös-ethnischer Ressentiments des 19. Jahrhundert zurückzudrehen.
Geht es nicht wirklich – gerade mit der Diskreditierung „linker“ Positionen einhergehend – an dem Phänomen vorbei, dass die ‚Anerkennung‘ im multikulturalen Spiel zu einem sehr zweischneidigen Instrument verkümmert ist. Politik schürt mit der Anerkennung zugleich die Konstruktion neuer Ansprüche. Keine der Parteien beruft sich dabei auf universelle Normen, lediglich das absolut gesetzte Recht auf Selbstbehauptung führt zu politischer Akezeptanz. Als wäre eben immer nur „Identitätpolitik“ die Sache der anderen, wo man sich doch selbst gerne zum Symbol der realen Modernisierung und eines universellen Metropolismus stilisiert. Warum also sollte die Politik der Islam-freundlichen Kolonisierung in der besonderen bürgerlichen Stellung der Juden ein Hindernis gesehen haben?
Über mehr als 100 Jahre konnten progressive, linke Intellektuelle und Juden als Chaosstifter, als das eigentliche Hindernis für moderne Ordnung verantwortlich gemacht werden. Hier jetzt aber werden auf „schlichte“, kaum spürbare Art, ja mit dem Anspruch wissenschaftlich begründeter genealogischer Forschung weltoffener Liberalismus und ‚Anerkennungspoltik‘ in fast gleicher Positionierung des Ressentiments als die motivierende, wirklichen Kraft des zeitgenössischen Anti-Semitismus desavouiert. Gerade an dieser Stelle wird das Ende der kritischen Linken eingeläutet und eine höchst zweifelhafte, ja zynische Macht rechtsnationaler Territorialpolitik gewissermaßen hinterücks gerechtfertigt.    
   

 
     
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