NACHRICHTEN AUS DEM OSTEN
Meingast liest und versucht sich als Kommentator, 20. bis 25. Juni 2020
Wer sich für globale Theorie und Strategie interessiert oder einmal über den Tellerrand seiner Mittagssuppe hinausblicken möchte, dem mag Pepe Escobar durchaus schon im Internet begegnet sein. Er schreibt in der ASIAN TIMES (12.06.2020) jetzt über den russischen Weltpolitik-Strategen Sergej Karaganov. Den hatte er schon im Oktober 2018 in Moskau besucht; aus der Begegnung mit ihm bezog er ein gründliches Wissen über die Grundlinien der russischen Außenpolitik. Jetzt fasst er einen Artikel von Karganov zusammen, der Anfang Juni im italienischen LIMESONLINE erschien. Darf man es hier so wiedergeben? Wenn Escobar Karaganov konsultiert, dann belegt er diesen intelligenten Kopf mit dem Emblem „der russische Kissinger“ (allerdings frei vom Verdikt, Kriegsverbrechen in Vietnam, Cambodia Chile begangen zu haben). Der Mann hat politisches Gewicht als Denker und Macher unter Putin. In der Tat ist Karaganov der Präsident des Russischen Rats für Außen- und Verteidigungspolitik und damit vergleichbar mit ähnlichen Figuren im amerikanischen Council of Foreign Affairs. (Man vermisst eine entsprechende europäische Institution. Wäre es eine Überforderung Mogherinis, sie mit der Bildung eines solchen beratenden Gremiums zu betrauen?)*
Die Korona-Krise setzte einen „Schwarzen Schwan“, die russische Phantasmagorie für Irritationen im Gefälle der internationalen Politik in Bewegung: Der neue absolute Bi-Polarismus zwischen China und den USA. Zugleich erkennen wir, dass sich die westlichen Eliten auf neue schwierige Bedingungen einstellen müssen, die aus den inneren Strukturproblemen des Wachstums-orientierten Kapitalismus entstanden sind: Ungelöste Umweltfragen, Klimawechsel, Verarmung der Mittelklasssen mit den entsprechenden sozialen Umbrüchen. Schlechte Zeiten werden uns prophezeit. Der auf einer ständigen Erhöhung des Warenkonsums gebaute Kapitalismus hat abgewirtschaftet. Das sind die sich allmahlich überall durchsetzenden schlechten Aussichten für das Dasein in Post-Virus-Zeiten.
Politisch drückt sich dies – so lassen Escobar/Karaganov uns wissen – in einem neuen Kalten Krieg (wohlbemrkt zwischen China und den USA) aus: Die letzte Schlacht des kollabierenden Weltsystems steht an. Und gerade darin sieht der Russe den Weg geebnet für die Entfaltung einer Dritten Kraft. Es sollte sich eine neue Bewegung unter Bündnis-freien Staaten entwicklen lassen, und gerade Russland sei dazu prädestiniert, diese anzuführen. Es sei Russlands historisch-traditionale anti-hegemoniale Stellung, auf die man setzen könne, denn es war immer schon ein Anti-Pode zu globalen oder regionalen Hegemonien. Karaganiv sagt, von Dschingis-Khan über Schwedens Karl der XII. Bis zu Napoleon und Hitler waren wir die Ant-Monopolisten: Im 15. Jh. hat China die Mongolen assimiliert, die Russen haben sie vertrieben. Das ist eine Lesart der Geschichte, die man Karaganov zumindest in Osteuropa nicht so leicht abnehmen kann. Dort hat man nach dem Zweiten Weltkrieg Erfahrungen gemacht, die sich so leicht nicht wegdenken lassen.
Zweite Idee über Russlands Rolle als Krisenretter: Eurasien. Auch diese ist so leicht nicht zu verdauen, wenn sie auch unter dem Deckmantel der Vorstellung der quasi natürlichen inneren Verbindung der eurasiatischen Landmasse einherkommt. Karaganov stellt sich Eurasien als einen multilateralen Verbund von Partnerschaften vor, ein egalitäres System der zwischenstaatlichen Pflege wirtschaftlicher politischer und kultureller Beziehungen. Wie lässt sich das gestalten? Von dieser Frage her wird das Bild der Entfaltung eines neuen „Großen Schachbretts“ entworfen: a) die mögliche innere Polarisierung Europas gilt als Grund dafür, dass man die Bindung Nord-West-Europas an den amerikanischen Pol leicht überwinden könne; b) die Integration Süd- und Ost-Europas schreite bereits im Bestand des Eurasischen Projektes voran. Balance soll sie bringen, nicht Konflikt; steht doch Russlands Führung für die Aufgabe, den politischen Konflikt zwischen China und den USA durch neue Öffnungen der Pollitikfelder in Afrika, Asien und Lateinamerka zu reduzieren. Eurasien wird so als ein Modellfall für globale Bündnisfreiheit und Nicht-Alleanz gesehen: Ein lockerer Verbund von multilateralen und multi-vektoralen Patnerschaften. Sie entfalten sich langsam aus der Peripherie und rücken ins Zentrum vor. Das mag im Falle der Türkei und Italiens bereits sichtbar werden. Aber was ist umgekehrt der Fall? Was ist mit Polen, Belarus und der Ukraine. Wie würde da Russland reagieren, wie Amerika?
Karaganov zeichnet in Fakt eine neue Tangente der Machtpotenzierug auf. Russlands Führungsansprüche sind so einfach angelegt, dass alle Widersprüche sich auf natürliche Weise erledigen sollen. Er behauptet im Großen die schrittweise friedliche Integration der nord- und westeuropäischen Staaten, und ihre Herauslösung aus dem amerkanischen Pol sei eine notwendige, quasi naturwüchsige Folge des aktuellen China-USA-Konflikts
Das Model sieht friedlich aus, ist es aber nicht. Allein schon aus den möglichen Reaktionen der Amerikaner heraus sind schwerwiegende Konflikte zu erwarten; und die komplexen multiplen Verbindungen der Europäer (verschieden gelagert allemal) zu einander und zu den Amerikanern werden hier nicht berücksichtigt. Es bedarf ein hohes Maß an multivariater Politikfähigkeit, das ein Erdogan – hier verbeißt man sich den gebotenen Zynismus - vielleicht aufbringt. Die demokratischen politsichen Eliten in den west- und nordeuropäischen Verfassungsstaaten aber werden sich so nicht einpassen lassen (Hier ist der Fall Salvinis durchaus erinnerungswürdig, wenn auch noch nicht ganz abgeschlossen). .
Escobar legt uns ein Lehrstück aus dem Osten vor. Wir sollten es berücksichtigen. Es mag helfen, a) die ambivalente Russische Haltung im Nahost-Konflikt (Syrien, Libyen, Irak) zu verstehen; b) neues Licht in die jüngsten Konflikte innerhalb der EU zum Post-Corona-Aufbauprogramm zu bringen (z.B. Sichtweisen in den Niederlanden, Italien besser zu verstehen etc.) c) die Neuorientierungen der internationalen Machtpolitk (Syrien, Libyen). Auch die Neubewertung des Brexits und seiner Folgewirkungen sollten unter dem Blickwinkel von Karaganovs Eurasien-Model vorgenommen werden. Was kostet es, sich über Prinzipien der Multilateralität Gedanken zu machen? Die innenpolitischen, innereuropäischen Risiken sind vielleicht bedeutender als die Außenzwänge. Aber, wir hören zu wenig davon, und während Karaganov in Italien gehört und gelesen wird, erscheint in unseren großenTageszeitngen nichts. Außer, ja wie dumm, wenn es darum geht, Gerhard Schröder, den scheinbaren Einzelgänger, aus dem Feld zu schlagen (und zu versuchen, über Mecklenburg-Vorpmmern Merz-Alternativen aufzubauen, wie banal?).
*Man verzeihe es diesem bewunderungswürdig Risiko-freundlich denkenden Meingast, fast hätte er es vergessen: In Deutschland zumindest darf man kluge Köpfe suchen, um sich an Zukunfts-Pandemie-Krisen-Bewältigungsinstitutionen zu beteiligen. Oder eben konkurrenzfähige Silicon-Tiefen- oder Hoch-Technologieautarkie zu entwickeln, nur eben das politische Denken, das muss man hier den Einzelkämpfern überlassen. Und weil man immer an soviel Geld denken muss: letztendlich sind die Einzelkämpfer im Einsatz ja doch viel ökonomischer. Ob dies dem Auszug aus der einseitigen Politik-Abhängigkeit dient?