Gut, die Chronik stammt aus dem 15. Jahrhundert, sie aktiviert aber einen Fall, der schon damals gut tausend Jahre zurücklag. Bei Hesse firmiert sie unter seinen von Volker Michels herausgegebenen Erzählungen aus „Italien“, 1983, pp.486-490. Es könnte gut sein, vielleicht streiten sie sich da noch heute, die Leute dort, wo man sich ihrer anlässlich des größten Mafia-Prozesses (ein Aufgebot von mehr als tausend Menschen, Angeklagte und Zeugen zur Corona-Zeit) erinnern kann. Das Beispiel, dass der Gott sich räche, auch an Neid weckenden Christen, an in Hybris auftrumpfenden Nachbarn, steht uns allen zur Warnung. Dass es sich wieder einmal um den Meergott Neptun oder Poseidon handelt, wie man will, den trickreichen, vom großen Meer her zuerst uns zum Begriff der Transzendenz hinführenden, ist mehr als nur Metaphorik, oder sagen wir, mehr als das Salz im Wasser. Hat er nicht schon die Griechen erschüttert, als das Argonautenschiff, wider alle Erwartung zurückkehrend, sich mächtig aus dem Meeresdunst erhob. Es ist der Macht dieses Götzen und seiner weiten Entfaltung über die Weltmeere hinweg zu verdanken, dass wir in ihm den Einen erkannt haben. Zurecht haben die Griechen in seinem Anblick bereits die abstrakte Vorstellung von einer universellen, allgemeinen Gottheit entwickelt. Ein wahrer globaler Knoten, ‚nodo universale‘, wie Dante Alighieri es uns schon im 13. Jahrhndert erzählt hat.
Um Neptun rangelt sich nun auch die Geschichte vom Streit zwischen den Menschen zweier Fischerdörfer am Tyrhennischen Meer. Da lebten doch in dem einen Dorf über eine ganz lange Zeit von Jahrtausenden hinweg vor den Restbeständen eines Poseidon- bzw. Neptuntempels als offenbar zufriedene Menschen. Nicht Wunder, dass darüber die Bewohner des anderen Dorfes durchaus von Neid befangen waren. Während die einen sich den Gott in seinen Ruinen rühmend bewahrten, blickten die andern aus Misgunst, wie Habenichtse herüber. Die Fischer des Meergott-Dorfes verhielten sich in allem, was kam, oder doch fast immer, so, als ob er ihnen zur Seite stünde; sie rühmten sich immer oder doch fast immer seiner Unterstützung. Bei allem Guten, was ihnen widerfuhr, erschien ihnen auch ihr Leben mehr und besser als bei den andern, die den naheliegenden ‚Gott‘ nicht vor ihrer Haustür hatten. So lagerten die Tempelruinen bis ins 15. Jh. hinein in relativer Ruhe, wenn man auch von Harmonie nicht sprechen kann. Dann aber, plötzlich im 15. Jh., wagten es die mit des Neptuns Tempel-Ruinen Gesegneten, mit der Kraft kirchlicher und außerkirchlicher Mächte auf dem Ruinenfeld eine richtige Kirche in Glanz und Würde erstehen zu lassen.
So nahm die Geschichte ihren diffizilen Verlauf. Ein Sturm kam auf. Das Kreuz über der Kirche fiel ins Dach und blieb in dem von ihm geschlagenen Riss hängen. Etliche Boote kamen nicht mehr zurück. Die Gesegneten schienen plötzlich des Segens verlustig. Zwischen den kirchlichen Fürsten, die die gegenseitigen Anschuldigungen zu schlichten versuchten, und ein paar alten Weißen aus dem Nachbardorf, die den Neptun hier doch am Werke sahen, klaffte die Spanne der Erklärungsnot. Letztere sahen sich bestätigt, als draußen im seichten Wasser hinterm Strand treibend, ein fremdartiger Menschen-ähnlicher Körper gefunden wurde, der in Gestalt des wirklichen Neptun erschien und körperliche und alt-griechische Sprachzeichen von sich gab. Es musste ein alter, weißer Doktor aus dem Nachbardorf geholt werden, der das alt-Giechische kannte, und den Meermenschen, mühselig zwar, zu verstehen schien. Die Nachricht des Meergotts wurde übersetzt. Bei Androhung weiterer verheerender Meerstürme, solle das Kirchendach mit dem Zacken, wie überhaupt der klägliche Zustand der Kirche nicht ausgebessert werden. Es dauerte keine kleine Weile, bis man die Sprache des Gottes allgemein entschlüssseln konnte, und die Verblüfften sich zum Schwur verstehen mussten, die Kirche und den Ort des Neptun auf ewig in Ruhe zu lassen. Der Meermann wurde wieder ins Wasser geleitet und ward von da an nimmer mehr gesehen. Und die Kirche? Die Kirche verwitterte selbst zur Ruine und erstand erst im 17. Jahrhundert wieder neu als „eine schöne Kirche im Barockstil“. So erzählte es Hermann Hesse im Jahre 1907. Damals war er noch ein junger Mann von dreißig Jahren. Mitgeteilt wurde uns das von Volker Michels in den 1983 herausgebrachten Schriften zu „Italien“.
Man verzeihe Meingast die einfache Nachzeichnung von Hesses wunderbarem Chronik-Text. Aber das Ganze schien ihm ein blendener Beweiß dafür, wie das große Altertum noch in den verfallensten Steinen beherbergt bleibt. Er glaubte sich in seiner Entdeckung bestätigt, dass die einmal geschaffenen monumentalen Kult-Gestalten, so vergänglich sie sein mögen, noch in den kleinsten, unscheinbaren Dingen überzeitliche Wirkungen hervorbringen. Eine Entdeckung, (die – man muss es bekennen - natürlich schon vor ihm einige andere hatten), die er aber nicht anders als mit dem Wort von der Mikro-Axialität trefflich zu bezeugen glaubt, weil hier bei aller Minimalität des Überkommenen gelegentlich ein Stück von kultureller Produktivität zum Vorschein kommt, an dessen Wirksamkeit man meist kaum zu denken bereit ist.
Neuer Text