Orient entfliehen

DEM  ORIENT  ENTFLIEHEN?

 

Ursprungsmythen aus dem Orient“ (FAZ – 31.03.2021, N4)


Dr. Meingast vermerkt, dass er den oben genannten Artikel vor einiger Zeit gelesen und dann zur Seite gelegt habe. Inzwischen ist der Reformtrend der Altertumswissenschaften weiter fortgeschritten. Zaki Khawas, der gern Doyen der ägyptischen Archäologie genannt wird, hat jetzt die Welt-erste, „metropolitane“ Königsbäckerei bei Luxor nebst einer Sandalenwirtschaft in Lehmbau von vor mehr als 3000 Jahren ans Licht des Tages gebracht. Eine Lehmziegel-Welt-Monumentalität, wie der Finder selbst. Andererseits,  in der FAZ wurde erzählt, wie in den Elite-Hochschulen der USA über notwendige ‚Reform‘ der in sakral „weißer“ Sichtweise der griechischen Säulentempel verhafteten Altertumswissenschaften gestritten wird; verdecke sie doch Beides, die Sklavereigesichte der Griechen und die aktuelle US-Schwarzen-Diskriminierung an den Universitäten. Man möchte meinen, der Kolonialismus brauche weiterhin sein inneres Gerüst, den abendländischen Rassismus, der jetzt neu nur im aufgesetzten Mantel der modernen Anerkennungsmoral wieder aufscheine.

Die FAZ – sophisticato, wie sie ist – kommt aber zu einer anderen Einschätzung. Sie nimmt sich Michel Foucaults als nicht mehr so lobenwert zu betrachtende Rolle vor; die einflußreiche ‚post-colonial theory‘ und die gängig gewordene Identitätpolitik werden ihm in die Schuhe geschoben und gewissermaßen verdünnt unter den bloßen machtpolitischen  Gesichtspunkt gestellt. Man spricht hier jetzt gar, von der Untauglichkeit der „postkolonialen Methode“ und hebt ihre Einseitigkeit „in der Analyse der westlichen Hegemonialität“ hervor. Die unterstellte postkoloniale Behautung der westlichen „Hegemonialität“ bleibt der FAZ ein Dorn im Auge. Und auch sonst werden wir, wie letztens schon so häfig, in die Sackgasse der Ohnmacht geführt, die uns befällt, wenn man neuerdings Spaltenweise täglich vom unbedingten Kriegstreibertum der neo-orientalen Großmächte Rusßland und China liest. Fast sieht es so aus, als wären wir mit dem Anerkennen des Islamismus der 1980er ff. Jahre in einen geisterhaften „Orient-Express“ gestiegen, den niemand mehr aufhalten kann. Wer die Nachrichten aus China verfolgt, wird fast täglich angehalten, keine chinesische Baumwolle zu tragen, weil sie von diktatorisch unterdrückten muslimischen Uiguren gepflückt wird. Nur, im neo-liberal auf Zeit uns erhaltenen ‚Orient‘ (z. B. Bangladesh, Pakistan und Ägypten), das möchte ich aus eigener Anschaung hinzufügen, wird die Baumwolle weiter – hier nicht ganz so wertvoll, aber teurer – auf großen Plantagen, Left-overs des Kolonialsystems, von Kindern und Frauen gepflückt. Massenhafte, wehrlose, Sonnen-beschienene Gesichter hinter den Baumwoll-Bällchen auf hellen flachen Feldern; vor ihnen stehen mit langen Bambus-Stöcken und tief hängenden Röcken die Khulis, die Arbeitswächter. In den von dort kommenden Hemden dürfen wir uns wohl fühlen, und von der Sklaverei im befreundeten Arabien braucht man jetzt gar nicht mehr zu reden. Die chinesischen Kommunisten unterdrücken die Uiguren. (Und die Macht aller Mächte, die ihren Aufschwung gerade eben der Sklaverei und dem Genozid an der endogenen Bevölkerung verdankt, darf sich jetzt im Namen der in Geschichte und Gegenwart obwalteten ‚universalen‘ Menschenrechtskultur die alleinig wahre Großmacht im Weltmasstab nennen.) Das Spiel mit der  Impfwissenschaft setzt dem Ganzen die Krone auf, wenn man liest, wie unsere angelsächsischen Freunde, auf Betreiben ihrer Impfstofffirmen, systematisch verhindern, dass Indien und Brasilien, die meistgeschundenen, eine patentrechliche Freisetzung zur Produktion eigener Impstoffe erhalten könnten. Auch hier hat die westliche Schmierentragödie mit dem östlichen Sputnik V-Impfstoff eine ganz eigene, neue Dimension des sonst anderswo beklagten Mangels an Menschenrechten aufgedeckt. Die Massenopfer von Corona-Toten werden ganz offen (BoJo, so sehr um die Renovierung seiner Privatwohnung bemüht) in Kauf genommen. Wo stehen wir? Geben wir uns den Diktatoren der sinkenden immer utopistisch-religiösen, korporativ und bürokratisch geleiteten identitären Westwelt hin? Natürlich wollen wir die einmal errungenen Freiheiten nicht aufgeben. Aber, dass sie uns im Namen des Corona-verschärften, klassenbewußten Re-sets der abstumpfenden „Büro-Demokratie“ genommen werden, das wollen wir auch nicht. Soviel möchte ich einleitend zum Thema „Hegemonialität“ gesagt haben, natürlich ist auch, voilà, unsere Zeitung von diesem Trend nicht ausgenommen. Kann man da anders, als in Polemik verfallen?


In den Kulturwissenschaften spricht man seit 1975 von der Spätantike als vom „Zeitalter der Transzendenz“. Hier fügte sich Michel Foucault mit seiner Entdeckung der „Idee“ der „politischen Spiritualität des Islam“ ein, wie er sie in den ‚Reportagen‘ über die iranische Revolution von 1978/9 auffand. Er beschrieb noch ganz im Gestus der „Dritte-Welt-Befreiung“ (im Sinne von Fanon und Sartre) eine Massenbewegung, deren Haupthemen die Verkörperung von ‚uralten‘ religiösen Ideen, die Technologien ihrer Umsetzung, und die Medien mit ihren Verknüpfungen mit den sonstigen materialen Bedingungen der globalen Umwelt waren. Die FAZ spricht davon notgedrungen wenig. Warum sollten wir auch – die eigentlichen Begründer der modernen Altertumswissenschaft - gerade in Deutschland, mit der post-kolonialen analytischen Sichtweise aufwarten. Davon sind wir doch gar nicht betroffen, oder? Und doch, trotz sich ständig häufender „Islamkonferenzen“ mit massenhafter Aktivierung von Kulturwissenschaftlern und Orientalisten bleiben wir im Kampf mit dem ‚Orient‘ hängen, als handele es sich um einen weltpoltischen Popanz der Anderen. Oder, spüren wir – blinden Auges - vielleicht selbst, dass wir das Zeitalter der Kolonialherrschaft doch noch gar nicht überwunden haben? 

Man erinnere sich an die hohe Zeit der Kolonialmächte, sie waren mit solcher Verbissenheit in der Metaphorik ihrer zivilisatorischen Mission verwickelt. Niederländer und Briten traten in Indonesien und in Singapore als Verteitiger der „Zivilisation“ auf und beschimpften sich gegenseitig als Sklavenhalter. Wohin kämen wir heute, wenn wir in einseitiger Referenz bei den „Ursprungsmythen aus dem Orient“ blieben und bei ‚Ursprung und Ziel‘ unserer Geschichte gar bei den (von Jaspers vergessenen) Ägyptern ansetzten? Es bedarf aber eines beträchtlichen Affekts an Khuzbe, dieses Ägypten so völlig wegzudenken. Denn es ereignete sich gerade erst in der deutschen Ägyptologie das Wunder, dass so große Gelehrte wie Erik Hornung und Jan Assmann zeigten, wie bedeutsam auch in seinen bleibenden Wirkungen der pharaonische Einfluss Ägyptens auf Griechenland und Rom war. Nur unsere deutschen Ägyptologen umgehen diese Frage des Ägyptischen „Ursprungs“ so geschickt, dass am Ende nur die „Esoterik" übrig bleibt*, die ja, wie wir selbst noch aus den bürgerlichen Seancen zu Beginn des 20. Jahrhunderts kennen. und die durchaus keinen Angriff auf den westlichen Rationalismus in Betracht zogen (Huxleys „Zeit muss enden“ nicht, Bloomsbury nicht, so wenig, wie Georges‘ Heidelberg). Bleiben wir also, wohin uns die FAZ führt, bei der postkolonialen Orientalismus-Kritik und der perzeptiven Hegemonialiät des Westens. Post-koloniale Analyse (so wird uns in der FAZ gesagt) schließe im Prinzip eine Beschäftigung mit den realen ernsten Dingen in Handel, Wissenschaft, oder gar  Diplomatie aus.  Man verzeihe mir, die FAZ geht mit ihrer  ‚Forgetfulness‘  noch weiter, und scheint Kolonialität überhaupt nur als eine Sache von Handel, Wissenschaft und Diplomatie. Sind damit die wirklichen Stoßrichtungen des westlichen Umgangs mit den Kulturen der – sagen wir es mit diesem außer Mode gekommenen Wort – „Dritten Welt“ angezeigt? Man denke nur an die – jüngst, als wären sie aus römischer Zerstörungslust erwachsen - Plünderungen und Zerstörungen von Bagdad, Aleppo und Petra seit 2012 und jetzt wieder in Syrien. Die Orientalismus-These von Foucault/Said schloß durchaus die Beschäftigung mit den Kämpfen um staatliche Macht und das Sprengen von einmal gewonnenen Leben-sichernden Institutionen mit ein. Die Orientalisten von heute behaupten, es gebe keine Säkulartät im Islam und nehmen damit in Kauf, dass man dort und überhaupt eben den säkularen National-Staat mit all seinen Wohlfahrts-Einrichtungen abschaffen kann: Islamische ‚Ambiguität‘ im Umgang mit Recht, Gesetz und Ordnung, oder eben das sanfte Adab,  ,Benimm,  an Stelle von stählerner Shari’a, Justiz. Wie glaubt man, mit solchen 'Verfremdungen' anders als irrtierend, einwirken zu können?

Erlauben  Sie mir, dass ich solcher perversen, gängig gewordenen Umkehrung, der Orientalismusthese nicht folgen kann. Sind das, etwa die methodischen Einwände gegen Foucault? Ist in den Geisteswissenschaften, um die es hier geht, Quelleninterpretation nicht immer schon ein Spiel über Zugang und Form der Interpretation von „Quellen“ gewesen? Spielt dabei nicht immer auch eine Rolle, wie und in welcher Form man lokale Kulturen „anerkennt“, wenn man sie als „Ideen“ nicht, dann vielleicht nur als Esoterik, Dummheit, oder  Natur- und Tiernähe in Betracht nimmt. Will man sich jetzt wieder vom kritischen Blick auf die vielfältigen subtilen Formen der Hegemonialität des Kolonialismus/Rassismus verabschieden? Nur weil es dabei auch um neue Quotenregelungen im Amtserwerb gehen könnte? Um habituelle Konkurrenz, die je nach Bedarf das scharfe Spitzen des Federkiels ein- oder ausschließt. 

Es ist wahr, dass das Verheerende des „Orientalismus“ gerade in jener Denkfigur liegt, die dem lokalen „Fremden“ selbst das schlechte Gewissen an den „verloren“ gegangenen Bestimmungen seiner Identität einredet, das Ressentiment im „native point of view“(Clifford Geertz) weckt  und damit die Luft und den Willen wegnimmt, sich im Authentizitätsspiel mit Abstand und Eigenwissen in die Moderne offenen Auges einzubringen. Die Existenzrealisierung des Standpunkts im Amt, die dem Nicht-Muslim quasi das Recht nimmt, sich objektiv mit dem Islam auseinander zu setzen, wie man umgekehrt ja auch dazu neigt, dem Muslim die Fähigkeit zu objektivem Denken zu bestreiten, kennzeichnet einen Zustand des postmodernen Umgangs mit „Otherness“. „Orientalisierung“ hier und „Okzidentifizierung“ da, werden als Mittel des Ausdrucks und der Bestätigung freundlicher oder feindlicher ‚Rassen/Klasseninteressen‘ eingesetzt. Wir kommen um dieses Spiel der Macht in der modernen „Objektivierung“ nicht herum. Warum also machen wir es nicht selbst zum Gegenstand unserer Forschung? Was könnte man dabei verlieren? Oder will sich die FAZ mit dem undurchsichtigen Wort vom „Ursprungsmythos“ selbst an jener Identitätspolitik beteiligen, die „Orient“ zum Abschießen freigibt? Dass die diversen Bauernvölker (von Indien Pakistan Ägypten u.a. etwa) es schaffen würden, als aktive Warenproduzenten im Welthandel aufzutreten, hat man nicht erwartet. In China wurden Bauern in bürokratische und militärische Heere aufgesogen, und jüngst erst in das weite Feld des hochrangigen Massenkonsums. Aber entstehen hier wirklich neue Kultur-Konkurrenten? Wenn ja, wo bleibt der Dialog?

Die multiplen Formen der Teilhabe am Weltsystem, die bisher nicht zur Auflösung der inneren Bindungen an überkommene Existenzformen geführt haben, bleiben Gegenstand des Interesses, das Globalität denken will. Und natürlich, hier ist das letzte Wort längst noch nicht gesprochen. Wohin der „Orient-Express“ fährt, weiß man nicht. In welchem Maße die Religion sich quasi als Idee der elitären Misswirtschaft weiter entfaltet, wie zuvor schon im Petro-Islam und im Iran, und so auf andere Länder der ehemaligen „Dritten Welt“ übergreift, ist noch nicht geklärt. Das von uns immer noch bewunderte kulturkranke Amerika – das an diesen Bewegungen nicht unschuldig ist – kann nicht als Vorbild dienen: Hat es sich doch selbst schon zum Opfer gemacht und scheint an den idititären Kämpfen selbst zu Fall zu kommen. Und das alte Europa? Ist es wirklich noch so unentschlossen? Noch gibt es sich, als könnte es sich selbst „freiheitlich“ versichern. Mir scheint, Europa wird am „Doppelgesicht“ seiner Formationsgeschichte festhalten; so sehr es glaubt, sich dem „Andern“ in den Kulturen der Welt öffnen zu können, so sehr bleibt es im Innern am ‚Exzellenz-Cluster‘ seiner begrifflich identären Einmaligkeit hängen. Man kann sich eben nicht so leicht von seiner Geschichte trennen. In Wahrheit – so meine ich den untertanen Willen zur Macht zwischen den Zeilen der FAZ zu lesen – steuern wir auf eine neue Welle elitär-bürokratischer Hierarchsierung zu. Es wäre dagegn zu schön (oder zu naiv), wenn die gegenwärtige Virus-Krise uns dazu führen könnte. das zu erkennen, was hier – auch im globalen Kulturgefälle – gespielt wird: Die Prozedur des herrschenden Machtspiels kommt praktisch in die Welt, als Spiel der verkörperten Ideen (auch wenn sie nicht so gemeint sind!). Hier hat Michel Foucault erste methodische Schritte gezeigt, die Welt als dieses gleichsam offene Spiel zu erkennen. Sich auf ihn zu berufen bleibt ein Anker der Kritik. Und selbst in archäologischen Studien über die Griechen in Süd-Italien kann Debris und Gräber-Schutt mehr an Bedeutung gewinnen und zum Verständnis des altertümlichen Alltags beitragen, als der „weiße“ Stil der Säulen-Tempel. Aber auch dieser hat seine produktiven Ecken und Enden, etwa im Blick auf das Draußen der Natur. Auch dieser Blick ist aufzuspüren, liefert er doch über das Begriffliche hinaus, in der Tat neue Erkenntnis über die Visionenen der Alten. Und zeigt das nicht, wie hilfreich post-koloniale Analyse sein kann, den Blick für antike Lebenswelten zu  öffnen?

In dieser Nähe kann man durchaus offen in die Betrachtung  der anderen  in den Kulturlandschaften der Moderne auffindbaren Vermischungsformen  eintreten. Im Hintergrund können dann immer noch Weltsystem- oder Empire-Theorien zeigen, wie Ursprung und Ziel der Geschichte verabreicht werden, gerade dann wenn, wie wir nicht vergessen, dass sie konkreten Interessen dienen und - im Guten wie im Bösen - okzidentalen „utopistischen“ Ursprungs sind.


*) Nachklapp: Es ist mir freilich bewußt, dass ich hier den eigentlichen Intentionen des Erik Hornung nicht gerecht werde. Möglicherweise fälschlich habe ich zu wenig Bedeutung seinen ausgleichenden Bemühungen beigemessen. Insbesondere in der Figur des Hermes Trismegistos zeichnet er das unermesslich aus dem späten ägyptischen Hellenismus herausragende Bild eines überhistorischen, Welt-umfassenden Gelehrtentums. Allerdings, es bedürfte einer großen Anstrengung, der ich mich nicht gewachsen fühle, die darin steckenden Spuren eines großen Orient-Geists aus dem europäischen Wust des Esoterik-Getues herauszulösen. Auch hier wäre ein Foucaultianer gefragt! (s. Hornung 1999)


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